Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Oktober.

Es liegt wieder eine Äusserung des deutschen Kronprinzen vor. Diese Äusserungen häufen sich jetzt in rascher Folge. Sie sollen den Kronprinzen als modern denkenden und dem Krieg abgeneigten Menschen darstellen. Diesmal ist es ein Interview mit einem amerikanischen Journalisten namens Hale. Diesem soll der Kronprinz nun gesagt haben:

«Haben Sie diese furchtbaren Kriegsleiden, die auf diese traurige Gegend der Erde herabgestiegen sind, genügend gesehen? Welchen Schaden bildet doch diese fürchterliche Zerstörung von Menschenleben und Hoffnungen der Jugend. Dieser Kampf verbraucht unsere Energien und unsere Hilfsquellen bis in eine ferne Zukunft. Wir beweinen nicht nur die deutschen Menschenleben und die deutsche Energie, die vernichtet werden. Wir beweinen die ganze Welt, einschliesslich Amerikas, das seine Mittel den Erfolgschancen der Alliierten zur Verfügung gestellt hat, und das für die Bezahlung der Ausgaben behilflich sein muss. Es ist schade, dass euer Nationalreichtum nicht dazu benützt wurde, um während diesen Stunden der Agonie der Welt Friedenssamen zu verbreiten, auf dass eure Wohlfahrt sich in der grossen Ernte, die auf die Wiederkehr der normalen Bedingungen folgen wird, vermehren kann, anstatt dass sie sich den unglücklichen und ungewissen Ergebnissen des Kriegs aussetzt.»

Der Kronprinz fügte hinzu: «Von allen Generälen, von allen Soldaten, die Sie an dieser Front sehen, gibt es keinen einzigen, der die fürchterlichen Notwendigkeiten nicht beklagt, die dieser Krieg mit sich bringt. Sie haben gestern die fürchterlichen Zerstörungsinstrumente gesehen, die wir anwenden: grosse Granaten, Shrapnells, Bomben, brennende Flüssigkeiten, Bajonette. Jeder Offizier und jeder Soldat würden es unbedingt vorziehen, dass diese Arbeit, diese intellektuellen und materiellen Hilfsquellen dazu verwendet würden, das Leben zu verlängern und die gemeinsamen Feinde der Menschen, die Krankheiten, die Hindernisse des menschlichen Fortschritts zu besiegen, als dass sie zur Vernichtung anderer Menschen gebraucht werden.»

Wieder diese Ansichten der Menschenökonomie und des weiteren pazifistische Erkenntnis: «Den Friedenssamen zu verbreiten!» Es kontrastiert nur alles mit des Kronprinzen früheren Äusserungen. Damals, 1910, bei der Einsetzung als Rektor magnificentissimus der Königsberger Universität, dann 1913 in der Vorrede zu dem bekannten Buch, in der Abschiedsrede von den Langfuhrer Husaren klang es anders. Es ist möglich, dass sich auch in diesem Soldatenkopf ein Wandel der Anschauungen durch den Krieg eingestellt hat, wie ja allenthalben ein Wandel der deutschen Psyche zu bemerken ist. Das wäre erfreulich; hoch erfreulich. Aber traurig, furchtbar traurig wäre es, wenn all diese sich häufenden Äusserungen nur das Werk von übereifrigen Freunden des Kronprinzen sein sollten, die es etwa für nötig erachten, für die Auffrischung seiner Popularität zu sorgen. Mit dem Bemerken einer solchen Absicht käme die Verstimmung.

* * *

Der Kampf der Kriegspartei gegen den Reichskanzler artet zu einer Heftigkeit aus, die in der politischen Geschichte des Reichs kein Gleichnis kennt. Wie weit ist es schon gekommen, wenn in einer Münchener Versammlung der Alldeutschen ein Teilnehmer ungestraft den Zwischenruf wagen konnte, man solle den Reichskanzler über den Haufen schiessen. Die Heftigkeit des Kampfes scheint sich jetzt in die geschlossenen Beratungssäle der Reichstagskommissionen geflüchtet zu haben und wird wohl in den nächsten Tagen im Plenum des Reichstags zur Explosion führen. Mit welchen Mitteln dieser Kampf geführt wird, geht aus einem Rundschreiben hervor, das einige Persönlichkeiten an eine Reihe konservativer und nationalliberaler Abgeordneter versandt haben. Das Rundschreiben (teilweise veröffentlicht vom «Berliner Tagblatt», 3. Oktober) tritt unumwunden für die Entfernung des Herrn v. Bethmann Hollweg vom Kanzleramt ein und begründet diese Forderung in folgender Weise:

«a) Herr v. Bethmann Hollweg hat sich vor und während des Kriegs gänzlich unfähig erwiesen, das politische Ansehen des Deutschen Reichs zu wahren und die militärischen Erfolge unseres glorreichen Heers wirksam auszunutzen.

b) Vor dem Krieg hat der Reichskanzler eine Politik der schwächlichen Nachgiebigkeit gegen alle unsere Feinde, vor allem gegen England, befolgt, und dadurch bei den Feinden den Glauben erweckt, Deutschland Hesse sich eher alles bieten, als dass es zum Schwert griffe, es erscheine also weder innerlich fest, noch äußerlich stark genug, sein Recht auf weltwirtschaftliche Entwicklung geltend zu machen.

c) Herr v. Bethmann Hollweg selbst hat dem britischen Botschafter Goschen gegenüber am Tag der englischen Kriegserklärung erklärt, seine Politik der Verständigung mit England sei zusammengebrochen. Ein Mann, der eine so falsche Politik jahrelang betrieben hat, eine Politik, die statt zur Verständigung zum Weltkrieg geführt hat, ist unfähig, weiterhin an leitender Stelle zu stehen. Er selbst hätte damals die Folgerungen für sich ziehen müssen aus dem Zusammenbruch seiner Politik, er hätte seinen Abschied nehmen müssen. In Verblendung über sich selbst, hat er es nicht getan. Der Reichstag ist dafür da, ihm öffentlich den Spiegel vorzuhalten.

d) Während des Kriegs hat Herr v. Bethmann Hollweg Fehler auf Fehler schwerster Art begangen, er hat das maßlos verderbliche Wort gesprochen vom Unrecht, das wir gegen Belgien durch Neutralitätsverletzung. begangen haben; ein Wort so unwahr in sich und so abträglich für Deutschland, dass es nur aus lügnerischem Feindesmund hätte stammen dürfen; er hat trotz grosser Siege unseres Heers seine jammervolle Friedenspolitik der Schwächlichkeit zum grössten Schaden Deutschlands fortgesetzt.

e) Herr v. Bethmann Hollweg hat weder vor noch während des Kriegs gewusst, wie die Dinge eigentlich standen.

Wer soll Bethmanns Nachfolger werden? Das ist zunächst Sache des Kaisers. Aber ein Name drängt sich auf, zumal im Hinblick auf England; Tirpitz.»

Das Schriftstück trägt neben einer Reihe gleichgültiger Namen den von Ernst Häckel. Das ist für alle Kulturmenschen ein stärkerer Verlust als etwa die Beschädigung der Kathedrale von Reims. Wie kann ein Mann wie Häckel ein derartig niederträchtiges, den alldeutschen Wahnsinn so klar zum Ausdruck bringendes Schriftstück unterzeichnen? Der Reichskanzler wird darin zum Verbrecher gestempelt, weil er das Unglück dieses Kriegs vermeiden wollte. Er wird als «gänzlich unfähig» hingestellt, weil er den Krieg nach Möglichkeit beendigen möchte. Die Kriegsbesessenen zeigen hier unverhüllt ihr Gesicht.

Es ist ein Verzweiflungskampf, den sie führen. Nicht den für Deutschland, sondern den für ihre eigene Rettung. Sie, die allein diesen Krieg herbeigeführt haben, wissen genau, dass ihre politische Existenz vernichtet ist, wenn die unsäglichen Opfer an Blut und Werten das Ergebnis nicht zeitigen sollten, das sie dem Volk vorgegaukelt haben. Sie suchen jetzt durch ihren Kampf gegen den Kanzler sich eine Ausrede zu konstruieren für später, wenn man sie zur Rechenschaft ziehen wird. Sie werden dann dem Volk zu sagen versuchen: Nicht wir sind schuld an der Ergebnislosigkeit oder Ergebnisarmut des Kriegs, sondern der «gänzlich unfähige» Kanzler, der unsere Forderungen nicht erfüllen wollte. Das Volk wird ihnen den Schwindel nicht glauben; denn es wird nach dem Krieg um ein gut Teil klüger sein als vorher, auch immuner gegen das alldeutsche Gift. Der Krieg war ein guter Impfstoff, wenn auch ein teurer.

An der Heftigkeit, mit der dieser Kampf gegen den Kanzler geführt wird, kann man ersehen, wie gross die Täuschung war, wenn man immer die Einflusslosigkeit der Alldeutschen hervorhob und sie als eine kleine Gruppe bezeichnete, die als quantité négligeable angesehen werden sollte. Wir Pazifisten haben vor dieser Täuschung stets gewarnt. Die kleine Gruppe ist nicht schwach gewesen. Sie hatte feste Wurzeln; nur nicht im Volk.

Darum erhält der Kampf eine geschichtliche Bedeutung, weil sein Ausgang erweisen soll, ob das Volk über jene Schreier und Reaktionäre triumphieren wird oder nicht. Weil sich jetzt zeigen soll, ob das in einem zweijährigen Krieg zum Weissbluten gebrachte Volk nunmehr das Recht sich erworben hat, über den Geist des Mittelalters, über die Blutideen der Gewaltfanatiker zu triumphieren, oder ob es weiter gezwungen werden kann, das Opfer dieser Irrungen zu bleiben. Vielleicht wird jetzt in Berlin die wirkliche Entscheidungsschlacht dieses Kriegs geschlagen.