Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 28. November.

In Berlin wird eine gefährliche Politik getrieben. Die Veröffentlichungen des bayrischen Ministeriums über die Kriegschuld sucht man zu entkräften. Es wäre jetzt nicht der Zeitpunkt, mit solchen Urkunden an die Öffentlichkeit zu treten. Man gäbe den Gegnern nur Waffen in die Hand. — Hat man dort wirklich nicht das Empfinden, dass es sich hierbei nicht um irgendwelche Zweckmäßigkeiten handelt, darum, ob es dem Feind gegenüber etwas nützt oder schadet, sondern lediglich um die politische Reinheit des neuen Regimes, das die Lügen und die Vertuschungen der Verbrecher der alten Ära nicht mit hinübernehmen darf in die neue Zeit, ohne das deutsche Volk auf das ärgste zu diskreditieren? Das Bekenntnis der eignen Schuld ist die Brücke, die das deutsche Volk zur Völkergemeinschaft hinüberführen kann. Da kann es sich nicht darum handeln, einen günstigen Zeitpunkt zu wählen. Was soll man vollends nun dazu sagen, dass sich das Berliner Auswärtige Amt Herrn Bethmann Hellweg zum Eideshelfer herbeiholt, der heute in der «Deutschen Allgemeinen Zeitung» in langer Ausführung die Haltung Deutschlands in der Weltkrise zu rechtfertigen sucht. Alle wohlbekannten Argumente, die tausendmal und eindringlich widerlegt wurden, schlagen an unser Ohr, wenn es auch erfreulich ist, zu sehen, dass die neu errungene Freiheit auch Herrn Bethmann den Mut gibt, an deutscher Politik Kritik zu üben. Nur hätte er, wenn er die jetzt vorgebrachten Bedenken schon früher gehabt hat, nach dem 1. August 1914 nicht mehr im Amt sein dürfen. Dass wir nicht verstanden haben, Elsaß-Lothringen richtig zu behandeln, dass die alldeutschen Treibereien und die «sogenannte Flottenpolitik» verhängnisvoll waren, sind keine Tatsachen von gestern. Sie haben vielmehr die ganze Regierungszeit Bethmann Hollwegs ausgefüllt, und er ist dennoch Kanzler geworden, Kanzler geblieben. Seine jetzigen Ausführungen sind von höchstem psychologischen Wert zur Beurteilung jener Mentalität, die das deutsche Volk zu dem bestgehasstesten aller Völker gemacht, und es in diesen verhängnisvollen Krieg getrieben hat. Alles was Bethmann zur Rechtfertigung der deutschen Politik vorbringt, ist nur von jenem Standpunkt der Anrempelei mit aufgekrempelten Hemdärmeln verständlich, der es nur darauf ankommt, sich nichts gefallen lassen zu müssen, und die aus dieser Geisteseinstellung das Recht zu jeder Gewalthandlung herleitet. Niemals leuchtet aus diesen Ausführungen der Gedanke hervor, dass eine veränderte Welt aufgekommen war, die mit politischen Boxerkunst-stückchen nicht reguliert werden konnte, die neue Methoden des wechselseitigen Verkehrs und Ausgleichs erforderte, und die zur Errichtung dieser neuen Methoden einfach nicht kam, weil gerade Deutschland sie nicht begreifen wollte.

So ist Bethmanns Andeutung, dass die Annexion Elsaß-Lothringens vor 50 Jahren vom Standpunkt des damaligen internationalen Rechts «ähnlich wie die zahllosen Annexionen zu beurteilen ist, die unsere jetzigen Gegner im Laufe der Geschichte (!) für sich vorgenommen haben», ein Beweis der Verblendung, mit der die Leiter der deutschen Politik in der Geschichte herumfuchtelten. Sie sahen nicht, dass eine Annexion mitten in Europa, einem großen Kulturvolk gegenüber, etwas anderes sein musste, als eine Annexion in Afrika oder Hinterindien. Sie sehen es heute noch nicht. Ein weiterer Beweis für die Verblendung ist die nicht uninteressante Behauptung des ehemaligen Reichskanzlers, «dass das große Programm des Präsidenten Wilson über den versöhnenden Völkerbund... damals (Juli 1914) noch keinerlei Geltung hatte», dass der Krieg vielmehr als loyales Mittel galt. — Das ist ja der große Irrtum! Er galt nur den in preußisch-militärischer Tradition lebenden Leitern der deutschen Politik als solches, weil diese Leute und die Schicht, in der sie lebten, aus ihrer mittelalterlichen Ideenwelt nicht heraus konnten; er galt aber den übrigen großen Kulturstaaten nicht mehr als loyales Mittel, und ein deutscher Reichskanzler, als Diener dieser mittelalterlichen Kaste, brauchte nicht zu wissen, dass «das große Programm des Präsidenten Wilson» jene Demokratien des Westens schon damals erfüllt hatten, und dass diese, weil sie sahen, wie wenig Deutschland bereit war, nach dieser Richtung mitzuarbeiten, dieses als gefährlich, als bedrohlich fürchten mussten. Nein! Herr von Bethmann, die Ideen, die Wilson jetzt vertritt, waren schon vor Wilson da, und wenn Deutschland klug geleitet gewesen wäre, hätte das Reich, gerade weil es in der Mitte Europas liegt und deshalb durch das Gewaltsystem am meisten bedroht war, jene Ideen aufgreifen, zu den seinen machen, und die Völker der Welt zum Völkerbund organisieren müssen. Es war der Ruin des deutschen Volkes, dass seine verantwortlichen Führer die Mahner, die dazu rieten, nicht erhört hatten.

Und mit Anschauungen dieser Art will man in Berlin neuen Geist, eine neue Ära anzeigen? Das ist ältestes Regime vom reinsten Wasser. Damit wird das Misstrauen über den Wandel in Deutschland nur gestärkt werden, und der bayrische Ministerpräsident hat gut daran getan, die Verbindungen mit Berlin solange zu unterbrechen, solange dieser alte Geist dort noch herumzuspuken vermag.