Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

5. Oktober 1914.

Der gestrige Namenstag des Kaisers ist vorüber gegangen, ohne dass die erwartete Meldung eines Fortschrittes in Galizien erfolgt wäre. Nachmittags Extrablätter, dass die Forts von Antwerpen abzubröckeln beginnen. Sonst sind entscheidende Fortschritte auf dem Riesenschlachtfeld Frankreichs nicht zu verzeichnen, nur dass in Marseille indische Truppen gelandet sind, stach mir in die Augen. Unangenehm berührte die gestern Mittag verbreitete Meldung des «Ungarischen Telegraphen-Korrenspondenzbureaus», dass Marmaros-Sziget «zeitweilig geräumt» und die Komitatsverwaltung nach Huszt verlegt wurde. Die Deutschen haben bei Augustow einen Sieg errungen.

Ein Witz der Natur ist zu verzeichnen. Die seismographischen Apparate von Pola melden ein «katastrophales Fernbeben». Was sind das für Lächerlichkeiten gegen den Festungskrieg von Beifort bis Antwerpen, gegen das katastrophale Menschenbeben überhaupt, das heute die Welt erschüttert.

Die erste Kriegsnummer der «Friedens-Warte» trägt mir viele Zustimmungen ein. Es scheint, dass viele Menschen glücklich sind, nach dem einseitigen Geplärre unserer Presse den andern Standpunkt wenigstens angedeutet zu sehen.

Zu den wichtigsten Aufgaben nach dem Kriege wird es gehören, die wahren Ursachen seines Ausbruches unparteiisch festzustellen. Ich glaube, Präsident Wilson hat sich dahin geäussert, dass dies nach dem Kriege seitens der neutralen Staaten in die Hand genommen werden soll. Leider gibt es wenige wirklich neutrale Staaten. Es gibt nur Nicht-Kriegführende mit verschiedenen Sympathien für die eine oder andere Gruppe. Aber es wird doch notwendig sein, und sicher auch möglich, ein unparteiisches Tribunal achtbarer Männer verschiedener Länder zusammenzustellen, die auf Grund von Akten werden urteilen können. Diese Feststellung wird nötig sein, denn durch den Fluch der Menschheit, der sich gegen den Schuldigen richten wird, wird der Kristallisationspunkt einer Verständigung geschaffen werden. Die gemeinsame Empörung wird versöhnend wirken.

Man darf die Schuldigen auch nicht lediglich als solche annehmen, die den Krieg gewollt haben. Die Schuld dürfte zum grossen Teil auch auf der Seite jener liegen, die den Kriegswillen Einzelner nicht mit allem Nachdruck hemmten. Die Schuld ergibt sich aus der Summe des Willens zum Krieg plus des verminderten Willens zum Frieden. Die Tatsache, dass es, trotzdem niemand den Krieg ernstlich wollte, dennoch dazu gekommen ist, ist nur erklärlich, dass nicht alle den Frieden ernstlich wollten, und das «so sei es denn» von verschiedenen Seiten etwas vorzeitig gedacht wurde.