Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 6. Oktober.

In diesen fünf Tagen, an denen mich ein trauriges Ereignis in meiner Familie hinderte, ruhig zu schauen und meine Eintragungen zu machen, welche. Entwicklung! Eine nach demokratischen Grundsätzen errichtete Regierung in Deutschland, gewaltige Bewegung zum Föderativstaat in Österreich, Abdankung des Königs in Bugarien, Angebot eines Waffenstillstandes seitens Österreich-Ungarns an Wilson, Annahme der vierzehn Punkte als Grundlage der Friedensverhandlungen, Fortschritte der Entente-Offensive im Westen. Es brodelt und zischt. Wird der Friede hier ausgekocht werden?

Das Angebot eines Waffenstillstandes seitens Österreich-Ungarns in Übereinstimmung mit Deutschland und der Türkei ist das Eingeständnis der Niederlage. Vor Wochen sprachen alldeutsche Vertreter noch vom Sieg. Noch gestern sagte der deutschnationale Stölzel im österreichischen Abgeordnetenhaus:

«Wir wollen einen ehrenvollen Frieden, nicht aus Schwäche oder Feigheit, sondern weil wir die Überzeugung haben, dass nunmehr des Mordens genug ist.» (Telegramm des W. K. B. vom 4. Oktober, N. Z. Z., 6. Oktober.)

Späte Überzeugung! Die hatten andere schon am ersten Mordtag. Die Dummheit der Alldeutschen tritt in diesem Satz deutlich hervor. Nicht aus Schwäche; nur aus Menschenliebe! Vermaledeite Höllenbrut! Wenn ihr noch Blut zu vergießen, noch Brot zum Mästen eurer Schlachtopfer hättet, ihr würdet noch immer nicht vom Frieden reden.

Prinz Max von Baden, der liberale Prinz, ist Reichskanzler. Sozialdemokraten in der Regierung. Die gestrige Reichstagssitzung ist ein historisches Ereignis. Sozialdemokraten in Ministersesseln. Scheidemann sitzt auf der Bundesratsestrade und Liebknecht im Zuchthaus. Solange Liebknecht im Zuchthaus sitzt, hat Scheidemanns Ministerqualität keinen Wert.

Es ist ja wunderschön, zu sehen, wie herrlich weit wir es gebracht haben. Eine demokratische, eine konstitutionelle Regierung! Was kostet sie? jeder Demokrat auf der Ministerbank so ungefähr ein Dutzend Milliarden! Die Totenschädel, auf denen er thront, nicht gerechnet. Für dieses Geld sollte man doch etwas Dauerhaftes erwarten. Etwas, das nicht bloß durch ein «ich will» des Monarchen geschaffen wurde, um wieder zu verschwinden, wenn der Monarch oder ein andrer einmal wieder nicht will. Ich kann nicht frohlocken. Denn erstens graut mir vor dem Blutweg, auf dem man zu dieser Demokratie gelangt; dann halte ich sie nicht für echt, Ich glaube deshalb auch nicht, dass sie uns den Frieden bringt. Der prinzliche Reichskanzler hat sein Amt mit einem Friedensschritt begonnen, von dem er gestern dem Reichstag Mitteilung machte. Er hat sich, ähnlich wie die österreich-ungarische Regierung, an den Präsidenten Wilson gewandt, an den Mann also, der gestern in Deutschland für jeden schreibenden Laffen vogelfrei war («Der Heuchelpfaffe», Fritz Engel), und ihn gebeten, die Herbeiführung des Friedens in die Hand zu nehmen. Seine Kundgebungen vom 8. Januar 1918 und vom 27. September wurden als Grundlage für die Verhandlungen angenommen. Das ist kein «hochherziges» Friedensangebot mehr wie einst im Dezember 1916.

Und ich komme immer wieder darauf zurück: es ist eine «große Zeit». Wie sie sich jetzt alle an den Pazifismus klammern, alle die Lehren der Weltorganisation, der Kriegsvermeidung durch das Recht preisen, als hätten sie es immer und von jeher getan, und als hätten sie nicht noch gestern darüber gelächelt. Es ist so gekommen, wie ich es im Juni 1914 in der «Friedenswarte» geschrieben:

«Der Pazifismus ist das einzige Heilmittel, das befreien kann. Halten wir es bereit und blank, stündlich kann es von uns gefordert werden.»

Es hat etwas lange gedauert. Aber jetzt fordern sie es; jetzt haben sie einsehen gelernt, dass nur im Pazifismus die Befreiung liegt. Für uns, die wir dieses Mittel bereit hielten, ehe dieses Blutmeer vergossen wurde, für uns bricht jetzt die «große Zeit» an.