Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 17. Juni.

Seit Grey im Mai einem amerikanischen Interviewer die Mitteilung gemacht hat, dass der Krieg vermieden worden wäre, wenn im Juli 1914 sein Konferenzplan angenommen oder wenn dem Hinweis des Zaren auf den Haager Schiedshof Beachtung geschenkt worden wäre, sucht die Diplomatie der Zentralmächte den Nachweis zu erbringen, dass sie allen Anlass hatte, die Konferenz zu vermeiden. Nach den Entgegnungen des Reichskanzlers veröffentlicht die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung» kürzlich diplomatische Aktenstücke, aus denen hervorgehen sollte, dass England in der Zeit der Annexionskrise eine für die Zentralmächte ungünstige und wenig Vertrauen erweckende Rolle gespielt habe. Nunmehr tritt auch Baron Burian mit ähnlichen Darlegungen auf den Plan.

Baron Burian sucht zunächst Englands Haltung in früheren Fällen zu beleuchten, wo es als Hetzer gegen die Zentralmächte aufgetreten sein soll. So 1908 im Casablanca-Konflikt, und 1909 während der bosnischen Krise. Die Beweisstücke sind Mitteilungen der österreichisch-ungarischen Botschafter in Paris und Petersburg. Ansichten einer Partei. Bei der Darstellung der Verhetzung, die England sich anlässlich des Casablancafalls angeblich hat zu Schulden kommen lassen, wo es zum Krieg gehetzt und die Zeit der Revanche für gekommen erklärt haben soll, übersieht Baron Burian die Gefährlichkeit dieses Beispiels just für sein Argument. Denn dieser so schwere, der kriegerischen Beeinflussung angeblich so frevelhaft ausgesetzt gewesene Fall wurde, wie er selbst sagt, beigelegt «infolge Mässigung und Einsicht der zwei unmittelbar interessierten Grossmächte ...» Das heisst: durch das Haager Schiedsgericht. Soll man sich da nicht die Frage vorlegen dürfen, wie es denn gekommen wäre, wenn auch der serbisch-österreichische Konflikt — trotz der argen kriegerischen Verhetzung seitens Russlands — «infolge Mässigung und Einsicht der zwei unmittelbar interessierten Staaten» beizulegen versucht worden wäre, wenn auch hier das mehrfach empfohlene Haager Schiedsgericht hätte angerufen werden können. War aber im Juli 1914 «Mässigung und Einsicht» überall vorhanden? — —

Auch die Bedeutung der Londoner Botschafter-Konferenz, auf deren Ergebnis sich Grey in seiner Legitimation beruft, sucht Baron Burian zu entwerten, weil Grey durch sein politisches Verhältnis zu Russland schon damals gebunden erschien. Es wird aus dieser nicht bewiesenen Behauptung der Schluss gezogen, dass Grey durchaus nicht berufen erschien zum Leiter einer solchen Konferenz, die einen Streit hätte beilegen sollen, wo Russland Partei gewesen wäre.

Deshalb konnte Österreich nicht auf die Konferenz gehen. «Welche Hoffnungen und Aussichten hätten angesichts der entstandenen, auf die ganze Welt zu wirkenden Gegensätze, die von einer solchen Macht initierte Konferenz erwecken können, deren Politik systematisch mit jener unseres bereits zum Kampf rüstenden Hauptfeindes identisch war?» So frägt Minister Burian.

Demgegenüber muss doch die Frage erlaubt sein, welche Hoffnungen und Aussichten der Krieg eröffnet hat, und wie er sie erfüllte? Ist die Konferenz mit allen ihren Bedenken und Befürchtungen wirklich das Schlechtere gewesen, gegenüber dem anderen Ausweg, dem Weltmassaker, dem Blutbad, von dem uns ein Jahrhundert nicht reinigen wird, der Massentötung der eigenen Staatsangehörigen, und der Massenvernichtung der Arbeits- und Lebenswerte ganzer Generationen. Hätte die schlechteste Konferenz jemals so viel schaden können als der denkbar beste Ablauf des Kriegs schaden muss; dem Lande wie der ganzen Menschheit schaden muss?

Minister Burian meint, wir haben in jedem Fall besser damit getan, in diesen Krieg zu gehen als auf jene Konferenz, wo man dem einen oder andern Staatsmann hätte misstrauen müssen.

Niemals wäre es möglich, bei einem zwischenstaatlichen Konflikt einen Krieg zu vermeiden, wir hätten den ewigen, den ununterbrochenen Krieg, wenn jedesmal das gegenseitige Misstrauen der Diplomatie davon abhalten sollte, den Versuch der friedlichen Verständigung zu unternehmen. Herr Burian spricht von der «feurigen Atmosphäre», die durch das serbische Attentat und durch «das notwendigerweise folgende Ultimatum» hervorgerufen wurde, und die es, seiner Ansicht nach, nicht denkbar erscheinen liess, «dass das System nüchterner Erwägungen und Verhandlungen am grünen Tisch ... mit Erfolg angewendet werden könnte ...» Die Notwendigkeit des Ultimatums muss bestritten werden, und diesem Schritt ist gerade jene Überhitzung der Atmosphäre zu danken, die dem Urheber der Überhitzung alsdann für eine friedliche Lösung des Konflikts ungeeignet erschien.

Der deutsche Reichskanzler hat den Grey’schen Vorschlag für unannehmbar bezeichnet, weil Russland schon zu mobilisieren angefangen halte. Baron Burian findet ihn ungangbar, weil man hätte misstrauisch sein müssen. Ja, welche Gefahren wären denn aus jener Haltung entstanden, die man infolge des Misstrauens befürchtete. Man wäre im schlimmsten Fall nicht darauf eingegangen und hätte die Konferenz verlassen können. Aber fürchtete man sich nicht vielmehr vor einem Entgegenkommen? Fürchtete man nicht, der Krieg würde unmöglich werden, wenn man einmal zu verhandeln angefangen hat?

Und warum spricht denn Baron Burian immer nur von der Konferenz, die den Zentralmächten nicht sympathisch erschien? Hat Grey nicht vorgeschlagen, dass Deutschland an Stelle der abgelehnten Konferenz irgend einen andern Weg zur Vermittlung vorschlage, hat er nicht schliesslich noch Österreich-Ungarn eingeräumt, Belgrad zu besetzen und mit diesem Pfand in der Hand, den vier unbeteiligten Mächten die Bedingungen kundzugeben, unter denen es verhandeln wolle? Sind diese Angebote nicht die beweiskräftigsten Garantien dafür, dass der Monarchie keinerlei Vergewaltigung auf der Konferenz gedroht hätte, dass das Misstrauen unberechtigt war?

Und alles das war unannehmbar, unsympathisch, nicht genug Vertrauen erweckend, aber das, was wir seit zwei Jahren mit uns herumschleppen, das war das Erlösende, Heilige, das Vernünftige, das Sympathische, das Gewissenhafte, das Edle, Schöne, Gute! Wer glaubts?