Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 27. Juni.

Der offizielle Bericht über das Fliegerbombardement von Karlsruhe liegt jetzt vor. Er meldet Schreckliches: Getötet 110 Menschen, darunter 30 Männer, 5 Frauen und 75 Kinder (!). Verletzt 147 Menschen, darunter 48 Männer, 20 Frauen und 79 Kinder. Es wird hinzugefügt: «Da die Verletzungen im allgemeinen sehr schwer sind, muss noch mit dem Tode mehrerer Verletzter gerechnet werden». — Unter den 154 verletzten und getöteten Kindern befinden sich drei Brüder, die gleichzeitig das Leben verloren haben, auch ein anderes Geschwisterpaar und der einzige, elf Jahre alte Sohn einer Frau, deren Mann im Feld gefallen ist. Am 24. Juni fand in Karlsruhe die Beisetzung von 98 Opfern statt.

Der amtliche Bericht spricht von der «zwecklosen Grausamkeit dieses Überfalls auf eine friedliche, unbefestigte Stadt». Er schliesst mit dem Satz: «Die Erbitterung über den zweiten, militärisch zwecklosen Angriff auf Karlsruhe ist allgemein und tief».

Ich fordere den Rektor der Berliner Handelshochschule, Herrn Prof. Dr. Paul Eltzbacher, in Berlin - Grunewald, Fonianestraße 8, hiermit auf, nach Karlsruhe zu gehen und dort öffentlich vor den Hinterbliebenen der Opfer und vor dem Verwundeten sein «lebendes Völkerrecht» zu verkünden. Er sol ihnen sagen, dass seiner Ansicht nach «es im hohen Maße dem Kriegsziel dient», wenn die Bewohner Karlsruhes die Schrecken des Kriegs erleben. Er soll vor allen Dingen den Mut haben und den amtlichen Bericht korrigieren, der eine, seiner blutigen Lehre so sehr widersprechende Unterscheidung zwischen befestigten und unbefestigten Orten macht! — Hat er diesen Mut nicht, bleibt er mit seiner gefährlichen Lehre hinter seinem Schreibtisch im Grunewald hoken, dann wird er eingestehen müssen, dass diese Lehre vor dem Blutbad von Karlsruhe schmählich Bankrott gemacht hat!

Ich möchte dem Vertreter des «lebenden Völkerrechts» die Worte einer Toten zurufen:

«Der Donnerschrei: Genug! wird sich der Menschheit entringen. Und schämen wird sich unserer die Zukunft, noch bis in die fernsten Jahrhunderte schämen, dass die herrliche Errungenschaft der Luftbeherrschung durch eine Epoche ging, in welcher man sie von dem Standpunkt aus betrachten durfte,wie sie am besten zu Verheerungszwecken auszunützen sei».

So schrieb Bertha v. Suttner, von den «Patrioten» verhöhnt, im September 1908.

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Nach einer aus Karlsruhe unterm 24. Juni verbreiteten Depesche betonten die Geistlichen in ihren Grabreden bei der Beerdigung der Opfer des Fliegerbombardements, « dass, wenn unsere Feinde glaubten, dass durch diese Untaten unser Mut geschwächt und unsere Kraft gelähmt würde, sie sich täuschten. Im Gegenteil, unsere Kraft wird dadurch gestählt und unser Wille zum Durchhalten gekräftigt».

Ich halte es zumindest für unvorsichtig, hier von «Untaten» zu reden. Es sind die gleichen Handlungen, die auch wir ausüben. — Was wird aber Prof. Eltzbacher zu dieser Wirkung sagen, die aus den Worten der Geistlichen hervorgeht. Er erwartet doch, dass die Fliegerbomben «Mutlosigkeit und Kriegsunlust» bei der Bevölkerung erzeugen. Hat er Recht, dann sind die Worte der Geistlichen unwahr. Haben die Geistlichen Recht, dann wird man einsehen müssen, dass die Grausamkeit des Luftkriegs zwecklos ist.

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Ein Adliger auf einem mecklenburgischen Landsitz schreibt mir (O. von D. in M.):

«Lesen Sie bitte in Nr. 9 dieses Jahrgangs von «Westermanns Monatsheften» den Artikel von Prof. Dr. Martin Schian über ,Weltfriede und Sittlichkeit’. Dort steht unter anderm: ,Friedensliebe ist nur der Wunsch nach Bequemlichkeit. Das aber ist kein sittlicher Gedanke. Er beruht auf Eigensucht, auf bequemer Opferscheu, auf Mangel an Gesinnungsempfinden. Er ehrt uns nicht, sondern er schändet nur’. — Als ich das genossen hatte, habe ich sofort um Aufnahme in die Deutsche Friedensgesellschaft gebeten und meinen Beitrag eingezahlt!»

Bravo!

Prof. Dr. Martin Schian ist ordentlicher Universitätsprofessor in Giessen und Herausgeber der Monatsblätter «Deutsch-Evangelisch». In der Oktobernummer dieser Monatsblätter von 1915 besprach er unter der Überschrift «Der unbelehrbare Pazifismus» meine Schrift «Europäische Wiederherstellung» ausführlich auf vier Seiten. Nach einer Analyse meiner Darlegungen schreibt der Giessener Gelehrte: «Es gibt Menschen, die sehen — und sehen doch nicht. Zu ihnen gehören diese ,wissenschaftlichen Pazifisten’». Und er meint: «... so wird der Pazifismus nach dem Krieg bleiben, was er vorher war: eine Anhäufung grauer, unwirklicher Theorien. Und wir andern müssen sorgen, dass er mit ihnen in unserm deutschen Lande keinen Schaden stifte.» Nun, Herr Professor, Ihr Bemühen ist vergebens. Sie treiben mit Ihren Aufsätzen Ihre Leser in unser Lager!

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Nach dem blutigen Vormarsch der Österreicher im italienischen Gebiet erfolgt seit gestern der Rückzug. Amtlich meldet Wien: «Zur Wahrung unserer vollen Freiheit des Handelns wurde unsere Front im Angriffsraum zwischen Brenta und Lisch stellenweise verkürzt. Dies vollzog sich unbemerkt, ungestört und ohne Verluste». — Rom meldet derouteartigen Rückzug mit zurückgelassenen Leichen und Kriegsmaterial. — Vor drei Wochen hatte Wien geflaggt. Heute flaggt Rom. — Sport! Fussball mit Menschenleibern und Menschenglück.

Bei all diesem Vor- und Rückwärts, diesem Vernichten und Triumphieren fällt mir immer das Standbild in einem öffentlichen Park in Gothenburg (oder Stockholm?) ein, das ein paar altnordische Zweikämpfer darstellt. Die Leiber sind mit Stricken fest verbunden. Dabei bearbeiten sie sich gegenseitig mit den Messern. Sie können nicht voneinander los und müssen sich zerfleischen bis sie beide hinsinken. — —