Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Interlaken, 24. Juni.

Die deutsche Nationalversammlung hat am Sonnlag (22. Juni) in einer denkwürdig bleibenden Sitzung mit einem Mehr von 273 gegen 138 Stimmen sich mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags einverstanden erklärt. Vorher hatte die Regierung Scheidemann demissioniert, und ein neues, aus Sozialdemokraten und Zentrumsleuten gebildetes Ministerium hat die Regierung angetreten. Der Sozialist Gustav Bauer hat das Präsidium, der Sozialist Hermann Müller das Ministerium des Äußern übernommen. Der Entschluss zur Unterzeichnung wurde unter dem Vorbehalt abgegeben, dass das deutsche Volk sich nicht als allein Schuldigen am Krieg ansieht, und dass die in den Artikeln 231—237 bedingte Auslieferung deutscher Personen, des Kaisers, der Heerführer usw., nicht erfolge. Auch bezüglich der Kolonien und einer Revision des Vertrags wurden Vorbehalte gemacht. Noch am Sonntag abend hat die Entente diese Bedingungen abgelehnt, und der deutsche Ministerrat hat in der Nacht von Sonntag zu Montag die Bedingungen nunmehr ohne Vorbehalt angenommen.

Die Reden in der Sonntagssitzung waren von tiefem Ernst erfüllt. Welch schreiender Gegensatz zu jenen Hurrareden in der Sitzung des Reichstags vom 4. August 1914. Es ist anders gekommen, als die im Machtdünkel der letzten Jahrzehnte befangenen Geister es sich vorgestellt hatten. Das Schwert hat sich als ein unsicheres Instrument erwiesen.

Durch alle Reden zieht der Gedanke, dass die Bedingungen des Vertrags unerfüllbar sind, dass eine Revision und eine Befreiung kommen müsse, dass auch die heutigen Gegner zu dieser Erkenntnis gelangen müssen. Traurig und resigniert sind die Reden der Konservativen, die gegen die Unterzeichnung gestimmt hatten, sehen sie doch den Untergang ihrer Ideen besiegelt, und sie halten darum auch das Volk für verloren. Aus den ernsten Reden der Sozialisten beider Gruppen spricht doch Hoffnung auf eine Wiedererrichtung im Geist der Demokratie. Am Schluss stand der Protest des Abgeordneten Hörsing, der namens jener deutschen Volksteile sprach, die durch den Friedensverlrag vom Mutterland abgetrennt werden.

«Wir werden auch unser Leben lang die Hoffnung nicht aufgeben, dass früher oder später die durch das Machtgesetz der kurzsichtigen und haberfüllten Gegner von der Heimat abgetrennten Gebiete zum Vaterland zurückfallen werden.»

Das ist das Gegenstück zu dem Protest der Elsaß-Lothringen in der Nationalversammlung zu Bordeaux im Jahr 1871. So stehen denn jetzt die Protestler auf der andern Seite und bekunden, dass das, was jetzt in Versailles unterzeichnet werden soll, ebensowenig ein Frieden ist, wie das, was 1871 in Frankfurt am Main unterzeichnet wurde, ein Friede war.

Nie und nimmer! Nie und nimmer können wir den Krieg als beendigt erachten. Der Vorhang fällt über ein Vorspiel. Gelingt es, im Zwischenakt das Elend gründlich zu überwinden, so ist die Möglichkeit eines Friedens gegeben, wenn nicht, fängt nach kurzer Pause der Gewaltwahnsinn des Kriegs von neuem an. Fürchterlicher, blutiger, vernichtender, als es die vergangenen vier Blutjahre waren. Das darf aber nicht sein; das kann nicht sein.

Wir müssen der Menschheit klarmachen, was ihrer harrt, wenn sie nicht den Weg der Umkehr einschlägt. Wir konnten sie auf der Bahn, die zum Abgrund führt, nicht aufhalten. Jetzt, wo sie dem Abgrund verfallen ist, die Schrecken erleidet, die wir ihr vorhergesagt, wird es doch nicht so viel Mühe kosten, sie zu überzeugen, dass sie heraus muss, auch daß sie heraus kann. Und es gibt nur ein Heil für das deutsche Volk, auch für die andern, den Verzicht auf das trügerische Mittel der anarchischen Gewalt, das wie der Alkohol vorübergehend die Lebenskräfte erhöht, aber sie dann um so stärker zusammenbrechen lässt. Nicht mehr durch Krieg gibt es Rettung. Alle Versuche, die Kräfte des deutschen Volkes zum Rachekampf aufzurütteln, sind Mordversuche an diesem Volk. Nie mehr werden die durch die deutschen Machtgötzen und Machtapostel geängstigten Völker eine kriegerische Auferstehung Deutschlands zugeben. Sie werden jede derartige Regung im Keim ersticken und schließlich, wenn die Gefährdung kein Ende nimmt, durch Aufteilung des Landes und unerbittlichen Massenmord diesem Volk, das alle hassen, ein Ende bereiten. Das deutsche Volk kann nur genesen, wenn es sich mit seiner ganzen altbewährten Tüchtigkeit und Hartnäckigkeit daran macht, die Menschheit in ihrem Streben nach Organisation und Stabilität zu unterstüben. Durch die Tore des Pazifismus geht es zum Risorgimento. Anders nicht, jeder andere Weg führt zum völligen Tod. Das deutsche Volk kann seinen Aufschwung nur mehr finden in dem Aufschwung der Menschheit, in der Überwindung des Nationalismus durch den Internationalismus, in der Durchbrechung der geistigen und geographischen Grenzen zur internationalen Kooperation.

Dieser früher unter dem Einfluss der Säbelpriester verachtete Gesichtspunkt muss obsiegen und die Köpfe und Herzen der Deutschen erfüllen! Auch die Herzen! Denn wenn ihr nur den Verstand allein walten lässt, wird man euch nicht glauben, bei dem Misstrauen, mit dem die Welt gegen euch erfüllt ist. Ihr müsst aus eurem Innern heraus die neue Heilslehre erfassen, wenn sie euch Heil bringen soll, nicht bloß mit dem Rechenstift der Opportunität. Gelingt euch das, dann wird das Wunder sich ereignen. Gelingt es euch, alle die Gewaltanhänger und Gewaltgläubigen, die alten Kriegsenthusiasten und Kriegsheber in die Hinterstuben des Staates und des geistigen Lebens abzuschieben, den Erkennern des neuen Geistes überall die Führung anzuvertrauen, dann wird mit einem Schlag der alte Hass-und Rachegeist der heutigen Gegner verschwunden sein, dann wird der Friedensvertrag von Versailles ein veraltetes, unbrauchbar gewordenes Instrument werden, mit dem man kaum mehr anzufangen wissen wird als heute mit dem Vertrag von Verdun und dem von Westphalen. Nur ein neues Deutschland kann sich aus dem Zuchthaus befreien, in das die Richter von Versailles das Siebzigmillionenvolk gesetzt haben, und ein neues Deutschland kann nur noch durch ein harmonisches neues Europa, durch eine neue Welt erstehen. Möge das bis in die lebte deutsche Hütte klar werden! Die Freiheit, die wir im Kampf gegen alle verloren haben, kann nur in der Vereinigung mit allen wiedererrungen werden. Wie die kleinen deutschen Staaten, die Städte, Bistümer, Herrschaften aufgingen in das Reich, dabei ihr Wohl, ihre Große und Stärke fanden, wird Deutschland und die anderen Nationen aufgehen in die Welt, in jenen erst zu errichtenden Bund der Völker, der sich zu dem Versailler Projekt so verhalten wird wie das Reich von 1871 zu dem alten Deutschen Reich. Und während diese nationalen Konsolidierungen in Deutschland und allenthalben nur durch Gewalt, durch Blut und Eisen vor sich gingen, wird diese kommende Integration der Nationen zur Menschheit nur vor sich gehen durch Geistestat, durch Hirn und Tinte.

In diesen furchtbarsten Tagen seiner Geschichte steht das deutsche Volk einsam in der Welt. Die Staaten als solche wenden sich von ihm ab. Sie stehen geschlossen auf der anderen Seite. Die Zahl der Neutralen ist zu gering, um hieran etwas zu ändern. Wer aber genau zusieht, bemerkt das wunderbare Schauspiel, dass hinter der starren Oberfläche der Feinde der Protest gegen jenes Friedensdiktat in hohem Maß einsetzt. Etwas, was sich noch nie erreignet hat, vollzieht sich. In den Staaten der Sieger erheben sich hervorragende Einzelpersonen, erheben sich Gruppen, Parteien, Massen und protestieren gegen diesen Frieden, den auch sie als einen solchen nicht ansehen. Die Revision dieses Friedensvertrags hat begonnen, ehe die Unterschrift darunter gesetzt war. Das ist auch schon ein Zeichen des neuen Geistes, das ist ein Zeichen des zusammengebrochenen Gewaltsystems. Breite Schichten der Völker wollen nicht mehr die Vorteile der Gewalt, die Scheingewinne, die sich aus der Unterjochung anderer ergeben. Sie schreien nach Recht, nach Ordnung, nach Organisation! Hoffentlich ist das deutsche Volk nicht so verblendet, diese Zeichen zu übersehen. Hoffentlich hört es nicht auf jene Verführer, die ihm die Wiedererhebung darstellen durch neue Bündnisse mit unzufriedenen Regierungen. Hoffentlich erkennt es, geläutert und verstandesschärfer geworden durch sein Unglück, dass nicht in neuen Bündnissen mit anderen Staaten, etwa mit Japan oder Russland, sein Heil liegt, sondern im Zusammengehen mit den freien, mit den pazifistischen Geistern in den Ländern der heutigen Feinde. Bei diesen prachtvollen Männern und Frauen in England, in Amerika, in Italien, überall, die mit uns aufschreien gegen diesen Frieden, liegt das Heil unsrer Zukunft, das Heil der Welt. Mit ihnen muss Verbindung, Bindung, Übereinstimmung gesucht werden. Das wird etwas anderes sein als diese auf Rekrutenzahl und Kanonenmaterial beruhenden Vereinbarungen des alten Regimes. Der neue Geist bricht sich allenthalben durch, möge dem deutschen Volk nicht das noch größere Unglück zuteil werden, jetzt noch blind zu sein.