Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

9. August 1914.

In den Zeitungen ist jetzt gerade das Gegenteil von dem zu verspüren, was Nicholas Murray Butler als den «internationalen Geist» definiert hat. Das ist die Kunst, sich in die Anschauung eines anderen Volkes hinein zu versetzen, es von seinem eigenen Gesichtspunkt aus zu verstehen versuchen. Wie weit ist man heute von dem entfernt. Mit aller Kraft sucht man darzutun, dass die Handlungen des Gegners verrückt, perfid, ehrlos sind. Es wird jede Handlung eines Einzelnen übertrieben und der Gesamtheit vorgeworfen. Alle Kulturtaten eines Volkes zählen nichts, sind vergessen, wenn man ihm nur eine einzelne unfaire Handlung vorwerfen kann.

In der «N. Fr. Pr.» erdreistet sich ein Schmock zu sagen, dass alle Kultur Frankreichs nur Firnis wäre. Auch wird keine Entschuldigung zugelassen. Dass verschiedene Handlungen, wie z. B. die gehässige Behandlung der Fremden, mehr durch den Krieg erzeugte Erregung, Kopflosigkeit und ein durch die Jahrzehnte erzogenes falsches Vaterlandsgefühl hervorgerufen wurden als durch Schlechtigkeit, darauf darf man gar nicht hinweisen. All diese Scheusäligkeiten sind doch nur die andere Seite jenes kriegerischen Geistes, dessen Zucht die Hauptsorge aller Patrioten bildete und noch bildet. Jetzt herrscht eben die fanatisierte Masse in den vom Krieg betroffenen Ländern, und die kleine Kohorte der internationalen Verständigung, der Kulturwahrung, hat überall die Führung verloren.

Man darf übrigens diese Dinge nicht zu ernst nehmen. Die Übertreibungen des Patriotismus und die Hassanfälle gegen Fremde sind die Symptome eines Fiebers, das vom Kriege unzertrennlich ist. Es wird mit ihm vergehen. Nur wird es sich zeigen, ob die Nachwirkung ebenso andauernd sein wird, wie nach 1870/71. Das glaube ich nicht! Ich wage zu hoffen, dass sich unsere jahrzehntelange Verständigungsarbeit hier nützlich erweisen wird. Sie wird vielleicht sogar den Frieden früher möglich machen und nachher das Hassgefühl rascher verrauchen lassen. Gerade dieser Weltzusammenprall wird die besonnenen Elemente von der Notwendigkeit unbedingter internationaler Kooperation überzeugen. Jedenfalls wird das unsere wichtigste Aufgabe sein nach dem Krieg, den Hass zu überwinden.

Die Einnahme von Lüttich wird in Deutschland und bei uns mit grossem Jubel begrüsst. Kriegstechnisch sind ja solche erste Erfolge von grosser Bedeutung. Aber ich fühle auch den Schmerz der Belgier, das Weh dieses Kulturlandes, dem wir soviel verdanken. Ich erinnere mich des Ausflugs, den wir Ende August 1905 mit der in Brüssel tagenden Interparlamentarischen Union zur Lütticher Ausstellung gemacht haben. Dort haben die Interparlamentarier den eben geschlossenen Frieden von Portsmouth gefeiert. Apponyi sprach vom Roosevelt-Frieden. Stanhope, Beernaert, Bartholdt sprachen. Welche Begeisterung, welche lebhafte Rufe «Vive la Belgique !» Und heute, 9 Jahre später, erhält ein preussischer General den Orden «Pour le mérite» für die heldenmütige Eroberung dieser belgischen Arbeitsstadt!