Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Interlaken, 30. Juni

Am samstag, den 28. fand in Versailles unter feierlichem Gepränge die Unterzeichnung jeens umfangreichen Dokuments statt, das den furchtbarsten Krieg beendigen soll. Der weltgeschichtliche Akt vollzog sich in jener historischen denkwürdigen Spiegelgalerie, in der am 18. Januar 1871 in Anwesenheit der deutschen Fürsten, der deutschen Heerführer und Bismarcks das Deutsche Reich begründet wurde. Sie fand statt just fünf Jahre nach jenem Tag, an dem der Gymnasiast Princip das Thronfolgerpaar der Habsburger Monarchie in Sarajewo ermordet hat, womit der Vorwand gegeben wurde für diesen Krieg. Die Unterschrift für das Deutsche Reich setzte als erster Delegierter ein einfacher Mann, ein Sozialdemkrat, dem vor fünf Jahren kaum der Gedanke gekommen war, dass er berufen sein werde, mit seinem Namen das Instrument zu unterzeichnen, das am Schluss des vom deutschen Militarismus frivol unternommenen Krieges stehen werde.

Die Versuchung, Vergleiche aufzustellen mit dem Tag von Versailles und einer frühern oder spätern Vergangenheit, ist von unwiderstehelicher Wucht. Die Pendelschwingungen der betrachtenden Seele weichen dabei in erschütternder Weise vom Mittelpunkt ab. Die Gegensätze, die sich der Betrachtung offenbaren, sind auch von unerhörter Distanz. Dieses Auf und Ab in fünfzig Jahren, das das Leben eines großen Teiles der heute noch mitwirkenden Generationen erfüllte, hat sich wohl in keiner Periode der Menschheitsgeschichte in solchen Gegensätzen gegezigt. Von dem Blut- und Eisenmann, der angesichts der Hauptstadt des besiegten Feindes das Reich proklamierte, bis zu dem Arbeitsvertreter Müller, der an derselben Stelle mit seinem Namen die schwere Bürde eines vernichtenden Friedensdiktats für das deutsche Volk übernimmt, von dem volksfeindlichen Hohenzollern, der dort die Krone des Reiches sich aufs Haupt setzen lieh, bis zu dem ehemaligen Sattler, der diesem Reich heute durch die Wahl des Volkes vorsteht, welch ungeheurer, welch erschütternder Wandel, den so viele unter uns vom Anfang bis zum Ende erlebt haben. Und erst dieser Wandel der neueren Vergangenheit, dieser Gegensah der Welt von heute und jener, die wir vor fünf Jahren gesehen haben. Welch blühendes Land war dieses Deutschland, welcher Garten war die Welt! Wie hätte sich all das pulsierende Leben in diesen fünf Jahren noch weiter entwickelt, wenn es gelungen wäre, die furchtbare Krankheit, die an unserm Gesellschaftsleben fraß und fraß, zu überwinden, ehe es Verbrechern gelang, sie zum unheilvollen Ausbruch zu bringen. Nicht auszudenken ist es, welches Glück der Menschheit, nicht nur dem deutschen Volk allein, damit zuteil geworden wäre. Wieviel Leben wäre erhalten geblieben, wieviel Trauer und Elend wäre erspart worden, welch gesundes Geschlecht würde heute Wohlstand und Glück durch Arbeit vermehren, wie wären die Völker über die Grenzen hinweg zur fruchtbaren Gemeinschaft vereint worden, wenn all das in fünf Jahren Erlebte nur ein böser Traum gewesen wäre. Wir Pazifisten, die wir die einzigen waren, die das Kommen solchen Unheils erkannt hatten, die wir unser Leben seiner Vermeidung widmeten, die wir all das blühende Glück retten wollten vor der Vernichtung, wir dürfen heute an dieser Schicksalswende auftreten und mit vorwurfsfreiem Gemüt den Fluch gegen jene schleudern, die zum Krieg trieben, die ihn schließlich ausgelöst haben, jenen ihre Unterlassung Vorhalten, die nicht uns, sondern die Weltverderber unterstützt hatten Es ist zu spät, zu spät für das unselige Geschlecht, das bis zur Jahrtausendwende mit Not und Mühsal die Unterlassungen des letzten Vierteljahrhunderts vor dem Krieg, das Verbrechen von 1914 wird bezahlen müssen. Aber was die Not dieser unglücklichen Generationen sein wird, wird dereinst das Heil der spätem sein. An den Erfahrungen dieser fünf Jahre, die wir erlebt, die in ihren Folgen wir und die Enkel noch lange werden ertragen müssen, wird die Welt genesen. An den Erlebnissen dieser fünf Jahre stirbt der Krieg, des Menschengeschlechtes Geisel, stirbt das militaristische Zeitalter. In Sturm und Not wird eine neue Zeit erstehen, und diese Geburt wird die Erinnerung an den Tag von Versailles verewigen trotz aller Unzulänglichkeit, trotz aller Stümperhaftigkeit, die dem Vollbrachten heute noch anhaftet.

Paris und Versailles und wahrscheinlich ganz Frankreich, wahrscheinlich die ganze übrige, gegen uns verbündete Welt haben zur Feier der Unterzeichnung Festschmuck angelegt. Die Fahnen flatterten, Girlanden zogen sich über die Straßen, Freudenschüsse wurden abgefeuert, Freude und Aufregung beherrschten die Menschenmassen. Es war ein großer Tag. O, wär’ er nur einer gewesen! Was hätte dieser Tag sein können, wenn an ihm die Menschheit wirklich Frieden geschlossen hätte. Wie berechtigt wäre der Jubel der Massen gewesen, wie berechtigt die äußere Feststimmung, wenn an diesem Tag die wahren Vertreter der Völker sich vereinigt hätten, nicht die Vertreter der siegenden und besiegten Regierungen, nicht die Diplomaten alter und ältester Schulen, nicht die goldstrotzenden Militärs, und wenn diese den Pakt des allgemeinen Weltfriedens, der allgemeinen Abrüstung, der Weltorganisation und der Magna Charta des Rechtes unterzeichnet hätten. So hatten wir es in den schweren Prüfungsstunden dieser Kriegsjahre erkannt. Einen Friedensschluss erhofften wir, der nur Einen Besiegten kennt, den Krieg und mit ihm jene Schichten, die mit ihm ihr Dasein rechtfertigen.

Es ist anders gekommen. Und wir müssen es so nehmen, wie es ist. Die Regierungen haben diesen Frieden geschlossen. Am 25. Mai 1916 habe ich in dieses Tagebuch eingeschrieben:

«... wir werden zwar um den Friedensschluss der Regierungen nicht herumkommen, aber nachher wird der Frieden zwischen den Völkern gemacht werden müssen. Eher ist der Krieg nicht zu Ende».

So ist’s auch. Wir haben jetzt die erste Etappe erreicht. Nun müssen wir der zweiten zuarbeiten. Dem Versailler Regierungsfrieden muss der Friede der Völker folgen. Und er wird ihm folgen. Das arme deutsche Volk, das im Reich, wie das durch die Macht der Versailler Paragraphen außerhalb des Reichs gebliebene und das durch jenen Vertrag aus ihm hinausgeführte, mag in dieser Zuversicht seinen Trost finden. Der Rechtsfrieden der Völker kommt, und er wird das Unerträgliche beseitigen, das Unerträgliche, das ja nur deshalb unerträglich ist, weil es unrecht ist. Das deutsche Volk gleicht heute einem seiner Freiheit beraubten Gefangenen. Es büßt die Sünden seiner Vorfahren. Möge es die Strafe in edler Haltung tragen. Der Tag kommt, wo ihm von den Völkern, die sich selbst zu Recht und Freiheit durchgerungen haben werden, die Freiheit wiedergegeben werden wird. Er kann nicht fern sein, dieser Tag. Eine Knechtschaft durch Jahrzehnte hindurch gibt es nicht mehr. Was Polen ertragen hat, wird dem Deutschtum erspart bleiben. Die Gewalt hat Schiffbruch gelitten, und das kürzt die deutsche Unfreiheit ab. Das schwergeprüfte, durch diese Prüfung geläuterte deutsche Volk wird durch seine Haltung und durch seine Mitarbeit an der Herbeiführung des wahren Friedens der Völker sein Leid abkürzen helfen. Das deutsche Volk ist nicht tot. Erschlagen sind nur die verbrecherischen Elemente in ihm, die einer alten Kulturperiode angehörten und im hellen Glanz der Sonne des zwanzigsten Jahrhunderts Mittelalter leben wollten. Diese Irren sind tot. Das deutsche Volk, in dessen Mitte sie lebten, ist bei diesem Vernichtungskampf stark mitgenommen, mitgeschlagen, geschwächt worden. Aber es lebt. Und es wird sich aufraffen, gesünder und größer werden, als es je war. Alle die Tugenden, Fähigkeiten, Eigenschaften dieses mitteleuropäischen Menschen werden aufflackern erst und dann zur hellen leuchtenden Flamme werden, die der ganzen Menschheit Licht und Wärme bringen wird. Die Stunde der Befreiung wird das deutsche Volk in Bruderschaft und Rechtsgemeinschaft mit allen andern Kulturvölkern finden.

Die Verwirklichung der Lehre des Pazifismus ist die Verwirklichung des wahren Friedens. Die Arbeit für die Befreiung Deutschlands ist gleichbedeutend mit der Arbeit für den Sieg der pazifistischen Lehre. Kein Wunder! Der Sieg der pazifistischen Lehre hätte vor dem Krieg Deutschland vor der Niederlage bewahrt. Es hat das Heil damals verschmäht; jetzt, wo ihm die Unterlassung so furchtbar heimgezahlt wird, wird das deutsche Volk, das vorher von seinen Verführern geblendet worden war, erkennen, wo seine Freunde und Retter stehen.

Der Krieg, der lange Krieg in seiner akuten Phase ist nunmehr formell abgeschlossen. Die Unterschrift in Versailles eröffnet die Periode der Wiederherstellung der Welt, der Eroberung des Friedens, der Umwandlung des noch brennenden latenten Krieges zu einem wahren Frieden Mein Tagebuch findet hiermit seinen Abschluss. In Stunden der Verzweiflung habe ich es im August 1914 begonnen. Mit meinem Herzblut bin ich hier fünf Jahre hindurch den furchtbaren Ereignissen gefolgt, habe ich den Wahnsinn bekämpft, die Heuchelei bloßgestellt, den Irrsinn, der den Krieg erzeugt, den falschen Patriotismus, den er hervorrief, kritisiert. Ich habe die Schuld an diesem Verbrechen erst schüchtern, dann immer deutlicher erkannt und hier klargelegt und habe mir hier, in Stunden der Verzweiflung und des Ekels, mein Herz erleichtert. Was ich schrieb, und was darin während des Kriegs teilweise veröffentlicht wurde, hat den Durchhaltern, den Eroberungssüchtigen, den Siegesgewissen, denen, die den Überfall heuchelten, nicht gefallen. Sie haben mich geschmäht, beschimpft, verleumdet. Die Pfeile flogen nicht nur von vorn. Sie kamen zuweilen auch von hinten, aus den eigenen Reihen. Das waren die schmerzlicheren. Ich wollte die Niederlage des Kriegs, wollte dass das Mittel der Gewalt sich für immer kompromittiere, und deshalb ersehnte ich, solange es noch möglich schien, den Kompromissfrieden, um den Mord abzukürzen, in der Hoffnung, dass ein Ende ohne Sieg dem Militarismus für immer den Todesstoß versetzen mühte. Was ich wollte, hat sich nicht ereignet. Der Wunsch der Jusqu’auboutisten ist in Erfüllung gegangen. Der Militarismus ist auf der einen Seite niedergeschlagen, er lebt jetzt auf der anderen. Ich will nicht sagen, dass das das Gleiche wäre wie vordem. Er ist drüben nicht so bodenständig, nicht so tief eingewurzelt, sprießt nicht so sehr unter der treibenden Sonne der Tradition. Aber er ist. Und auch nach dem vollen Sieg wird es daher noch der Erkämpfung des wirklichen Friedens benötigen. Vielleicht wäre das Gleiche unter wenigen Opfern erreicht worden? Vielleicht? Aber das Geschehene lässt sich nicht mehr ändern. Ändern lässt sich nur noch die Zukunft. Da diese der schwergeprüften Menschheit Glück verheiße, sei der Inhalt unserer weiteren Arbeit. Möge es bald gelingen, den Schutt zu beseitigen und die Geister von Rachegefühlen und Hass zu befreien. Wir alle, wir Sieger und Besiegte, sind ja arme, bedauernswerte Opfer. Verstehen wir uns in Leid und Schmerz. Überwinden wir die tierischen Triebe zum Wohl der Kinder, denen wir eine gesäuberte Welt hinterlassen wollen. Mögen sich zunächst diejenigen die Hände reichen, die ihre Köpfe kühl behalten haben. Erst ein Anfang, dann kommen die andern. Beispiele brauchen wir, Beispiele! Erkennen wir doch, wie international das Leid ist, das der Krieg erzeugt, wie international der Tod ist, den er gesät, und ermannen wir uns zur Internationalität des Lebens und des Glückes.

Meine Eintragungen in das «Kriegstagebuch» hören nunmehr auf.

Aber ich will sie nicht schließen, ohne noch einmal an dieser Stelle einen Fluch gegen jene zu schleudern, die im Sommer 1914 frivol und unbekümmert, ebenso unverständig wie gewissenlos diesen Krieg ausgelöst haben. Sie seien für immer Ausgestoßene der Menschheit, ihr Andenken sei geächtet und bespien solange Menschen die Geschichte ihrer Gattung verfolgen werden; sie, die Mörder von zwanzig Millionen, die Vernichter der schönenWelt; sie, die den Aufschwung unseres Daseins, alle Fortschritte der Kultur um ein Jahrhundert gehemmt haben, die uns zu Krüppeln an Körper und Geist machten, die uns Zeitgenossen um unser Leben, um unser Recht auf Glück betrogen haben. Euch allen, die ihr zum Krieg getrieben, die ihr ihn entschieden und bewirkt habt, euch, die ihr ihn hättet hemmen können und nicht gehemmt habt, und euch, die ihr dann das Volk durch Lügen zur Begeisterung gebracht, die ihr alle Wandlungen und Verbrechen gebilligt, mitgemacht und in der Hoffnung, Nutznieser des Sieges zu werden, unterstützt habt, euch allen gilt mein Fluch, der euch verfolgen möge durch euer Leben und die Geschichte.