Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 18. September.

Die Stümper der «Norddeutschen Allgemeinen Zeitung» verdienten, vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Die Art wie hier gegen Deutschland erhobene Beschuldigungen gerechtfertigt werden, ist danach angetan, den letzten Rest von Sympathien für Deutschland bei den Neutralen zu vernichten und das künftige Los der im Ausland Arbeit und Fortkommen suchenden Deutschen auf das Traurigste zu gestalten.

Die oberste Heeresleitung hat 20,000 Einwohner der nordfranzösischen Städte Lille, Roubaix und Tourcoing aufs Land evakuiert. Darauf grosse Empörung in ganz Frankreich. Die französische Regierung veröffentlicht ein Weissbuch mit haarsträubenden Einzelheiten, das grosses Aufsehen erregt.

Nun dementiert die «Norddeutsche Allgemeine Zeitung». Alles geschah «im eigenen Interesse» der Bevölkerung. Man hat sie «in ihrem eigenen Interesse zwangsweise zur Arbeitsleistung herangezogen». Auch völkerrechtlich seien die Massnahmen gerechtfertigt. Man zitiert die Haager Abmachungen. Wie berührt das!

Also in ihrem eigenen Interesse hat man um drei Uhr morgens die Leute aus den Häusern gezogen, sie auf der Strasse Aufstellung nehmen lassen, sie von ihren Familien, ihrem Heim weggenommen und in Viehwagen in eine fremde Gegend zur Arbeit versandt.

«Alle Einwohner des Hauses», so lautete die Kundmachung des Militärbefehls, «mit Ausnahme der Kinder unter vierzehn Jahren und deren Mütter, wie der Greise, müssen sich vorbereiten, um in 1 1/2  Stunden abtransportiert zu werden.»

«Jeder kann dreissig Kilogramm Gepäck mitnehmen. Ergibt sich ein Gewichtsüberschuss, wird das gesamte Gepäck der betreffenden Person zurückgewiesen.»

Wie es den Bewohnern weiter erging, kann man aus den 245 Anhängen des französischen Weissbuchs ersehen. Wenn nur ein Zehntel des Berichteten wahr ist, kann man sich des Mitleids mit der armen Bevölkerung nicht erwehren, und nur den einen Wunsch hegen, dass unseren Landsleuten niemals das Geschick zuteil werden möge, dass eine fremde Regierung sich in gleicher Weise unter Berufung auf die Haager Abmachungen, ihres «eigenen Interesses» annehme.

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Das Wolffsche Bureau verbreitet folgende Stelle aus einem Bericht Karl Rosners im «Berliner Lokal-Anzeiger» («Neue Zürch. Zeitung» 19. September): «Berlin, 18. Sept. (Wolff). Sp. Der Kriegsberichterstatter Karl Rosner schildert im Berliner ,Lokalanzeiger’ eine Zusammenkunft mit dem deutschen Kronprinzen an der Verdunfront und gibt dabei Äusserungen des Kronprinzen wieder, die von dem guten Verhältnis zwischen dem obersten Führer und den Mannschaften und von der Sorge der Führung zeugen, die bei allem auf das Wohl der Mannschaften bedacht sei. Der Kronprinz erzählte u. a.: Da kam meine Frau in Berlin in ein Lazarett und spricht mit einem Verwundeten aus einem meiner Korps und fragte ihn, ob er mich kenne. Dieser sagt: Freilich, der Herr Kronprinz war oft bei uns im Graben. Aber, wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, sagen Sie es nur Ihrem Mann, Frau Kronprinzessin, zu suchen hat er da vorn eigentlich nichts. Meine Frau bestellte mir’s dann auch richtig. Genützt hat’s freilich nicht viel. Bei den ungeheuer weiten mir unterstehenden Verbänden kann ich zur nächsten Fühlung mit dem einzelnen Mann nicht so kommen, wie ich es gerne möchte. Aber ich glaube, auch hier wissen sie es, dass mir jeder Mann ein Einsatz ist, von dem ich keinen Augenblick vergesse, dass er ein Mensch ist wie ich selbst, ein Stück unseres deutschen Volks. Was uns die Überlegenheit und die Kraft über die andern in diesem Ringen gibt, ist zum besten Teil eben diese, in dem Gewissen eines jeden deutschen Heerführers lebendige Achtung und ethische Wertung gerade des Einzelnen, denn schliesslich kämpfen wir doch allein für den Bestand des deutschen Bodens und für die Zukunft des deutschen Blutes. So kommen wir dazu, jede Kampfhandlung mit allen Mitteln derart, bis ins allerkleinste, vorzubereiten, dass der Erfolg dann mit einer möglichst geringen Hingabe des Kostbarsten von allem, des Bluts, errungen werden kann. Jedermann soll wissen: lieber dir sind Männer, denen bist du ein lebendiges Stück des Regiments, Sohn, Gatte, Vater, und was diese Männer nur tun konnten, um dich zu behüten, und dich heil und froh zum Siege zu führen, das geschah.»

Dieses Eindringen von der Lehre der Menschenökonomie in die Gewissen der deutschen Heerführer ist so erfreulich, dass man daraufhin den Abdruck der Verlustlisten in der Tagespresse wieder gestatten könnte.