Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 29. April.

Ein Lichtblick! — Der berühmte englische Chemiker Ramsay soll in einem Fachblatt verletzende Äusserungen gegen Deutschland veröffentlicht haben. Darob sollte er auf Verlangen vieler Mitglieder als Ehrenmitglied der deutschen chemischen Gesellschaft gestrichen werden. Bei der am 26. April stattgehabten Generalversammlung der Gesellschaft nahm jedoch der Vorstand den Standpunkt ein, man solle erst das Ende des Kriegs abwarten, um Ramsay dann Gelegenheit zu geben, sich wegen der ihm zugeschriebenen bösen Äusserungen auf die deutsche Wissenschaft, den Handel und die Industrie Deutschlands zu rechtfertigen. In einer lebhaften Debatte, wobei der Standpunkt einer ansehnlichen Minderheit vertreten wurde, die die Grundlage für eine sofortige Streichung bereits gegeben fand, siegte die Meinung des Vorstandes.

Das ist im Hinblick auf die Scherbengerichte, die zu Anfang des Kriegs abgehalten wurden, ein erfreulicher Beweis einkehrender Beruhigung und Besinnung.

Die österreichisch-italienische Angelegenheit tritt in eine ernste Phase. Italien tut ganz kriegsbereit. Die italienischen Blätter schreiben, dass Österreich bereits entschlossen wäre, das Trentino bis zum Brenner abzutreten, eine Grenzberichtigung des Isonzo bis Görz vorzunehmen, Triest zu internationalisieren und Pola zu neutralisieren, ausserdem neben verschiedenen andern Konzessionen zur Besitzergreifung Valonas durch Italien sich einverstanden zu erklären. Italien verlangt von Österreich heute Erniedrigenderes als dieses in seinem Ultimatum von Serbien verlangt hat. Eine solche Konzession wäre nicht nur eine Niederlage Österreichs sondern auch Deutschlands, wäre die fürchterliche Folge dieses Kriegs, der seinen Anfang nahm durch die leichtfertige Zerstörung des Berliner Vertrags durch Aerenthal, als er im Jahre 1909 ohne die Vertragsteilnehmer zu befragen («los von Europa»), Bosnien und die Herzegowina annektierte. Ohne Verträge die Anarchie, und nur in der Anarchie kann es vorkommen, dass sich ein Staat dem «la bourse ou la vie» eines andern gegenüber befindet. Um die Grossmachtstellung der Monarchie zu behaupten, gingen Berchtold und Tisza in den Weltkrieg, eine friedliche Auseinandersetzung mit Serbien hielten sie mit dem Prestige des Reichs unvereinbar. Und dieser Verzicht auf Besitz und Zukunft soll nun auf einmal als zulässig angesehen werden, mit der Grossmachtstellung und dem Prestige «vereinbar»?