Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Lugano, 27. April.

Eine Wolff-Depesche suchte vor einigen Tagen die französische Behauptung zu entkräften, die Deutschen hätten bei ihrem Rückzug die Obstbäume des unglücklichen Landstrichs nur aus reiner Zerstörungslust vernichtet. Es wäre eine ernste strategische Notwendigkeit gewesen, denn das Laub dieser Bäume würde im Frühling und Sommer gegen die Erkundungsfahrten unsrer Flieger dem Gegner Deckung gewährt haben. — Das ist sehr richtig, vollkommen logisch gedacht. Nur nicht zu Ende gedacht ist diese Rechtfertigung. Mit der selben Beweiskraft für die «strategische Notwendigkeit hätte man sämtlichen Bewohnern des verlassenen Gebiets die Augen ausstechen können, da die sehenden Bewohner ein ewiges und gefährliches Hindernis gegen unsere Maßnahmen sind. — Man sieht, wohin man kommt, wenn man im militärischen Denken konsequent bleibt! Der militärisch Denkende, der von dem Gesichtspunkt ausgeht, dass im Krieg alles erlaubt ist, was rein militärisch für den Augenblick Zweck hat, ohne die Rückwirkung auf das eigne Volk und dessen Zukunft zu bedenken, ist ein Schädling für dieses Volk, zumal wenn er mit den heutigen Machtmitteln ausgestattet ist, die die Wissenschaft ihm zur Verfügung stellt.

Wie als Folge jener strategischen Notwendigkeiten die Stimmung in Frankreich ist, beweist mir ein Brief (O. W.) aus Paris, der vor dem Krieg zu einem der kraftvollsten Kämpfer für die francodeutsche Verständigung gehörte. Es ist traurig, diesen Mann jetzt in seiner Erbitterung und Verachtung zu hören.

«Ich mache mich hier» so schreibt er «zum Echo der Empfindung, die um mich herum herrscht. Der ,strategische’ Rückzug hat Deutschland ein moralisches Vorurteil eingetragen, das absolut unreparabel ist. Leute, die so handeln können, erscheinen uns keines Erbarmens wert. Wenn Michel alles ausführt, was die Dynastie und die Junker befehlen, so wird dieser sich bei der Regulierung der Rechnung nicht entziehen dürfen. Die Verantwortlichkeit fallt auf alle Deutsche. Es gibt Franzosen, die ein Gelübde getan haben, den ersten Deutschen, den sie nach dem Krieg auf französischem Boden antreffen sollten, zu erwürgen. Sie sehen, wohin die Theorien des großen Generalstabs führen. Deutschland wird erst später erkennen, was der Krieg es kostet . . .»

Warten wir das Kriegsende ab. Das deutsche Volk, das durch die Rechnung zur Besinnung kommen wird, die ihm erst nachher präsentiert werden wird, dürfte sich, sehend geworden, zur Wiedergutmachung aufraffen. Die Erinnerung an Courrière wird wieder aufleben. Die Erinnerung an die Hilfeleistung deutscher Bergleute an ihren in Lebensnot geratenen französischen Genossen wird den verderblichen militärischen Geist überwinden helfen. Ich sehe große Scharen Freiwiliger aus Deutschland nach Frankreich eilen, um an der Wiederherstellung des Landes zwischen Aisne und Oise mitzuarbeiten, um die Taten zu desavouiren, die sie nicht billigen, für die sie die Schuld nicht mittragen wollen. Ich sehe den Tag. Und diese Freiwilligen werden sich nicht zurückhalten lassen vor der Gefahr, von den Franzosen erwürgt zu werden; geschähe ihnen das, so werden sie dann für eine große Sache sterben. Für die Wiederherstellung des deutschen Namens in der Welt.