Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

25. Mai (Lugano) 1915.

Seelenzustände wie anfangs August vorigen Jahres. Innere Unruhe, Schlaflosigkeit, kaltes Entsetzen. Man hatte sich an den bisherigen Verlauf des Kriegs bereits gewöhnt und sah schon ein baldiges Ende voraus. Durch den Eintritt Italiens erscheint das Ganze wieder so uferlos.

Gleichzeitig mit Macchio ist gestern abend auch Fürst Bülow abgereist. Das ist zwar noch keine Kriegserklärung, wohl aber kaum viel weniger. Im übrigen haben gestern bereits die Feindseligkeiten begonnen durch Unterseeboote und Flieger. Elf Bomben fielen auf das Arsenal von Venedig. Welche Gefahr besteht doch für Italiens Kunstschätze. Die neuen Schiesswerkzeuge sind nicht wählerisch. Die Markuskirche; der Mailänder Dom in Gefahr!

Italiens Treulosigkeit ist der Gipfelpunkt der sogenannten «Realpolitik». Diese steht ja ausserhalb des Sittengesetzes. Dies lehrt nicht nur der Italiener Macchiavelli, sondern auch der Deutsche Treitschke. Und auch auf Nietzsche könnte sich Sonnino berufen. Der Fall Italiens ist aber so krass, dass er vielleicht zu einer Umkehr führen wird. Vielleicht wird man jetzt nach diesem unerhörten Treubruch zu der Überzeugung kommen, dass es auch in der Politik nicht ohne Moral geht. Wir steuern ja der unerträglichsten Anarchie zu, wenn der Kredit der Verträge nicht neu gefestigt wird. Ohne Verträge keine Gesellschaft, ohne Gesellschaft der Krieg Aller gegen Alle. Es müssen neue Garantien für die Heiligkeit der Verträge gefunden werden, und diese sind nur durch die Einführung der Sittlichkeit in das politische Handeln zu erringen.

So kann der Treubruch Italiens noch Gutes für die Menschheit bringen.

Wir können aus den Vorgängen in Italien, aus dem Verhalten der italienischen Politiker und des italienischen Volks viel lernen. Gerade weil wir hier mit einer gewissen Objektivität Vorgänge zu beobachten in der Lage sind, die wir erst kürzlich selbst erlebt haben, zu deren Beurteilung jedoch die Objektivität und die Freiheit der Erörterung gefehlt haben. Wir finden es empörend, wie das offizielle Italien seinen Vertragsbruch rechtfertigt, denken dabei aber kaum daran, dass unsre Gegner die Begründung des österreichischen Ultimatums und der Verletzung der belgischen Neutralität ebenso auffassen mussten. Unsre Zeitungen finden es unfassbar, wie ein grosses Volk, das in seiner Mehrheit den Krieg nicht will, durch die Suggestion der Strasse und einer kriegerischen Presse in ihn hineingetrieben wurde, und doch haben wir das Gleiche vor wenigen Monaten bei uns erlebt. Mit Beifall zitieren bürgerliche Blätter einen Bericht des «Vorwärts» über die Kriegssuggestion in Italien: «Wie ein Wille, dessen Herkunft und Begründung sich niemand klar macht, ein ganzes Volk ergreift und mit dem dumpfen Glauben an eine unentrinnbare Notwendigkeit erfüllt! —» Das hätte diesen Beifall nicht gefunden, wenn der «Vorwärts» in bezug auf die Kriegsstimmung in Deutschland sich so geäussert hätte. Und doch hatten wir hier das selbe Beispiel; auch hier der Wille einer unsichtbaren und daher unkontrollierbaren Minderheit, der den «Glauben an eine unentrinnbare Notwendigkeit» erzeugt hat. Die Rede des sozialistischen Abgeordneten Turati gegen den Krieg in der Sitzung der italienischen Kammer vom 20. d. M., die wütenden Auslassungen des «Avanti» gegen die Kriegsmacher werden von sehr national gesinnten deutschen Zeitungen mit sichtlicher Genugtuung in fettesten Lettern wiedergeben, während die selben Blätter gleiche Äusserungen gegen den Krieg von deutscher sozialistischer Seite als Landesverrat brandmarken würden. Wir können aus den Vorgängen in Italien eine furchtbare Lehre ziehen. Es ist die Kriegspsychose, jene grauenhafte Krankheit, die wir hier, wo wir andre damit behaftet sehen, mit kühler Überlegung in ihrer ganzen Schreckhaftigkeit zu erkennen vermögen. Wir sprechen von Italien und meinen uns. Tattwam asi! Und doch fluchen wir jenem Volk, das uns überfällt. Hier habe ich aber Gelegenheit italienische Frauen und Mütter bitter weinen zu sehen, ob des Umstands, dass ihre Männer und Söhne gegen uns in den Krieg ziehen müssen. Der Krieg sieht anders aus in der Presse, anders in den vier Wänden der Familien. —

Und wenn die Friedensparteien in Italien stärker gewesen wären, welcher Vorteil wäre das doch gewesen. Dann hätten aber die Regierungen bei uns die Friedensparteien unterstützen müssen. Wäre in Deutschland und Österreich die Friedensbewegung von den Regierungen so unterstützt worden, wie die Flottenvereine und die Wehrvereine, dann hätten sie eine solche Kraft erhalten, dass sie unweigerlich auf die Stärkung der Friedensparteien in dem jetzt feindlichen Ausland Einfluss gewonnen hätten. Dann wäre der Krieg vermieden worden. Das wäre positive Friedenspolitik gewesen.

Die italienische Zirkularnote an die italienischen Vertreter im Ausland sucht das Vorgehen Italiens zu rechtfertigen. Sie führt eine ganze Menge von frühern Vorkommnissen an, die eine feindselige, ja kriegerische Haltung der Monarchie beweisen sollen. Dass von Seiten Österreich-Ungarns das Verhalten gegenüber Italien gerade kein bündnisfreundliches war, muss zugegeben werden. Aber da die Freundschaft trotzdem bestehen blieb und immer in feierlichster Weise verkündigt wurde, so wird Italiens Haltung in diesem Augenblick keineswegs entschuldigt. Man wird sich später mit jenen Vorgängen zu befassen haben, die Italien jetzt als Vorwand dienen und wird dabei erwägen müssen, wie weit die Tätigkeit der Chlumetzky, Chiari, Rud. Hans Bartsch (Broschüre «Unser letzter Krieg»), der Einfluss von Zeitungen wie «Danzers Armeezeitung», «Oesterreichische Rundschau», der «Reichspost» und andrer Personen wie Blätter dem Vaterland von Nutzen waren. Wir Pazifisten können auch hier ein ruhiges Gewissen haben. Wir suchten diese Umtriebe zu bekämpfen und gründeten bereits 1906 in Wien ein «austro-italienisches Verständigungskomitee». Hätte man nur immer auf uns gehört!