Das Kriegstagebuch des Alfred H. Fried

Bern, 19. März.

Und Graf Hertling hat sich in seiner gestern im Reichstag gehaltenen Rede ausgesprochen über jene Heuchelei, die darin bestünde, von einer selbstlosen Politik zu sprechen, «da man die< span class="font19">

drückende Hand auf ein neutrales Land

zu legen im Begriff ist». Die Forderung nach dem Schiffsraum Hollands, die immer noch milder ist als die Torpedierung holländischer Schiffe, nennt der Reichskanzler die «drückende Hand, auf ein neutrales Land» gelegt. Wie muss da erst die Hand bezeichnet werden, die seit dreieinhalb Jahren auf Belgien ruht?

Die Rede Hertlings ist noch in manch anderer Beziehung bemerkenswert.

Der Sowjetkongreß, der am 15. März in Moskau zusammengetreten war, sanktionierte den Friedensvertrag von Brest-Litowsk, nannte ihn aber einen «entehrenden» und «erzwungenen» Frieden, womit der Charakter jenes Friedensschlusses als Säbelfriede so richtig in die Erscheinung tritt. Es sollen nur 450 Mitglieder für die Ratifizierung gestimmt haben, während sich über 900 der Stimme enthielten. Also wie einst in Bordeaux ein Frieden unter Protest. Das Elsaß-Lothringen des Ostens ist geboren. Graf Hertling aber erklärt, dass der Brest-Litowsksche Friede für Russland keine «entehrenden Bestimmungen» enthält, vor allem aber keine «gewaltsame Aneignung russischen Gebiets». Er fügte hinzu:

«Wenn eine Reihe von Randstaaten aus dem russischen Staatenverband ausscheidet, so entspricht dies dem eigenen, von Russland anerkannten Willen dieser Länder.»

Es ist möglich, dass sich der Reichskanzler, wie viele Deutsche, in diese Idee hineingelebt hat, dass es sich bei jenen Staaten wirklich nicht um gewaltsame Annexionen handelt. An der Tatsache, dass hier gewaltsam annektiert wurde, ist nicht zu rütteln. Es berührt so eigentümlich, hier vom «eignen Willen» jener Länder sprechen zu hören, wo doch die ersten Verhandlungen in Brest-Litowsk gerade daran gescheitert waren, dass Deutschland sich weigerte, den wirklichen Willen der Bevölkerung zu ergründen und den Willen einer kleinen, priviligierten Klasse als den maßgebenden angesehen wissen wollte. Alle Verschleierung nützt nichts. Deutschland hat die Notlage Russlands weidlich ausgenützt und hat in einem Umfang Landesteile gewaltsam losgerissen und seiner Einflußsphäre unterstellt, wie dies in Europa noch nie vorgekommen ist. Ein Friede, wie er gebrechlicher nicht vorgestellt werden kann, ein Friede, der höchstens als eine Karrikatur auf den wahren Begriff des Friedens gelten kann, ist da zustandegekommen und schreit gefräßig nach weiterem Blut, nach weiteren Opfern.

Im übrigen ist die Rede Hertlings eine Ansage des Fortgangs des Kriegs im Westen. Die Hoffnung auf Verhandlungen ist aufgegeben. «Es muss jeder Versuch einer ruhigen Aussprache und jede sachliche Erwägung scheitern.» Er schloß seine Rede mit der Erklärung: «Wir sind auf alles gefasst und sind bereit, weiter schwere Opfer zu bringen.» Ein «Bravo!» begleitete diese Ankündigung des Todes von Hunderttausenden. Wie schnell ist man bereit, Opfer zu bringen, die darin bestehen, dass andere sich opfern, und wie schnell ist man sogar bereit, ein «Bravo!» dazu zu rufen! Und man ist um so eher zu solchen Opfern bereit, wenn man, wie Graf Hertling dies tut, mit einer leichten Gebärde behauptet:

«Die Verantwortung aber für das Blutvergießen wird auf die Häupter aller derer fallen, die die Fortsetzung des Blutvergießens wollen.»

Womit natürlich als selbstverständlich angenommen wird, daß die andern das Blutvergießen aus Lust am Morden wünschen und der Gedanke nicht aufkeimt, daß der Krieg, wenn er einmal entfacht ist, nicht für jeden gleichmäßig das Ziel als erreicht gelten lässt, daß der Wille zur Fortsetzung des Blutvergießens bei dem einen nur eine Phase des gesamten Kriegswahns ist, die demjenigen gerade als wahnsinnig und verbrecherisch erscheint, der seinerseits in der «Fortsetzung» des Blutvergießens in einem früheren Stadium, seine Rechnung bereits gefunden zu haben glaubt und sich saturiert fühlt. Das Charakteristische des Kriegs ist seine schwere Beendigung. Der Vorwurf der Schuld an einer «Fortsetzung des Blutvergießens» ist töricht. An der Fortsetzung allein auch nur der schuld, der mit dem Blutvergießen begonnen hat, der Urheber des Kriegs.

Zur Frage Toul-Verdun hat kürzlich Bethmann Hollweg selbst in den «Münchener Neuesten Nachrichten» das Wort ergriffen. Er holt etwas weit aus, begründet aber die Notwendigkeit jener Forderung in folgender Weise:

«Hätte Frankreich unter dem Schuss einer scheinbaren anfänglichen Neutralität seine Vorbereitungen bis aufs letzte beendet, um dann in einem ihm günstigen Augenblick, wo wir im Osten tief engagiert gewesen wären, über uns herzufallen, nun — ich brauche nicht auszuführen, in welch verzweifelte Lage wir geraten wären. Nur eine mit sicheren Garantien umgebene Neutralität konnte uns davor Schützen. Eine solche Garantie aber war wiederum nach dem Urteil der zuständigen militärischen Instanzen nur gegeben, wenn in den Gürtel der uns vorgelagerten französischen Festungen und Sperrforts ein Loch gesprengt wurde. Am Vaterland hätte ich mich in seiner höchsten Not versündigt, wenn ich über dieses militärische Urteil hinweggegangen wäre . . .»

Dieser Ausspruch ist sehr lehrreich. Er beweist uns zweierlei:

Erstens wie geringen Wert die sogenannten militärischen Sicherungen haben. Elsaß-Lothringen, das nur annektiert wurde, um einen französischen Angriff zu erschweren, hafte im entscheidenden Augenblick gar keinen Wen. Selbst nicht einmal als Sicherung für eine Neutralitätserklärung Frankreichs. Hierzu erachteten die militärischen Instanzen nunmehr Toul und Verdun für unbedingt nötig. -Die Sicherungen werden also immer weiter draußen gesucht. Sie sind die blaue Blume des Militarismus, ein romantisches Gebilde ohne Wirklichkeiisgehalt.

Zweitens beweist uns Bethmann Hollwegs Ausspruch, dass der leitende Staatsmann zu jener kritischen Zeit, wie er nun selbst zugibt, nicht als Staatsmann, sondern als Werkzeug der Militärs gehandelt hat, über deren Urteil er nicht hinwegzugehen wagte. Er hätte aber dem Vaterland mehr genützt, wenn er den militärischen Instanzen entgegengetreten wäre und ihnen offen erklärt hätte, dass ihre Forderung politisch undurchführbar sei. Man könne, so hätte er klarlegen müssen, von einer Großmacht eine derartige Demütigung nicht verlangen.

Aber Bethmann Hollweg widerspricht sich. In seinen Äußerungen ist auch eine Mitteilung enthalten, die deutlich erkennen lässt, dass er auch ohne Rücksicht auf das militärische Urteil zu handeln bereit war. Er sagt:

«Aber ich möchte die französischen Staatsmänner, die von dieser Instruktion jetzt so viel Aufhebens machen, daran erinnern, dass Deutschland in den darauffolgenden Tagen noch eine andere Form der Neutralitätsgarantie vorgeschlagen hat, eine Form, die längst durch offizielle Publikationen bekannt gemacht ist, und die sich nicht auf einegar nicht ausgeführte Instruktion bezieht. Als sich uns die leider auf einem Mißverständnis beruhende Aussicht eröffnete, daß der Krieg durch Dazwischentreten Englands auf den Osten lokalisiert werden könne, haben wir ausdrücklich erklärt, dass uns eine von Frankreich erklärte Neutralität völlige Gewähr biete, falls sie von England garantiert werde.» Also plötzlich wird das Urteil militärischer Instanzen umgestoßen, ist die Notwendigkeit, ein Loch in den französischen Festungsgürtel zu brechen, nicht mehr vorhanden? Plötzlich hält es Bethmann Hollweg nicht mehr für eine Versündigung am Vaterland, sich über das militärische Urteil hinwegzusetzen, hält er die Gefahr, die aus einem sich neutral erklärenden Frankreich drohte, nicht mehr für gegeben, wenn das von Deutschland aus nicht fassbare England die Garantie übernimmt? Man muss zugeben, dass diese beiden Erklärungen sich widersprechen und der Verdacht aufkeimt, dass in den kritischen Tagen des Juli 1914 die sichere Führung der Politik zu wünschen übrig lies.

Alle diese Maßnahmen waren schließlich nur darauf berechnet, den Krieg bequemer führen zu können, und unerfindlich ist es, wie Bethmann Hollweg als Fazit seiner Erklärungen die alte Tonleiter wieder Vorbringen konnte in dem Sab:

«dass wir vielmehr bis zum lebten Augenblick zu allem bereit waren, was diese Weltkatastrophe abwenden konnte.»

Hätte sie denn selbst die garantierte Neutralität Frankreichs noch abhalten können? Die Möglichkeiten der Kriegsvermeidung lagen vor dem 31. Juli 1914. Dass es überdies die Reichsregierung für angebracht hielt, einer Grobmacht zuzumuten, ihre Bundespflicht nicht zu erfüllen, wo Deutschland doch selbst unter dem Hinweis auf seine Bundespflicht in den Krieg trat, ist ein anderes Kapitel, das ich hier nur andeuten will zur Kennzeichnung des Friedensgeistes jener traurigen Tage.